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Eine Schachgeschichte

Aufruhr auf dem Schachbrett

Aufruhr auf dem Schachbrett

Fazit dieser Geschichte:
Es ist sinnvoll, Spielregeln festzulegen und sich daran zu halten. Sonst gibt es Chaos.

„He, mal alle Pferde zu mir kommen!“
Der laute Ruf ihres Chefs Philidor ließ die Schachfiguren aufschrecken. Sie hatten lange geschlafen, denn Herr Drachau und Dixi gingen bei dem schönen Wetter lieber spazieren als sich an das Schachbrett zu setzen.

König Cessolius stand in der Mitte des karierten Brettes und schaute sich gebieterisch um. Die Schimmel trabten herbei. Der Rappe Bachtar zeigte seine Kraft mit einem eleganten Sprung über Bauer Bruno, der erschrocken den Kopf einzog. Sein Kumpel Gachtar drängelte sich – zu faul zum Springen – zwischen Felix und Gari hindurch. Er konnte es sich nicht verkneifen, dabei Gari ein wenig auf den Fuß zu treten, hatte der ihn doch letztens all zu spöttisch belächelt, als Gachtar seiner hübschen Chefin Regina schöne Augen machte.
Die vier Pferde stellten sich vor Philidor auf und er betrachtete sie wohlwollend. Pferde waren seine ganze Leidenschaft. Selbst die Rappen seines Gegners Cesolius mochte er gut leiden. Fast alle seine Partien begann er mit Beinzi oder Geinzi. Nur ganz selten durfte einer aus seiner Bauernschar den ersten Zug machen. Herr Drachau ärgerte sich zuweilen über den Eigensinn seines weißen Königs und spielte also lieber mit den schwarzen Figuren.

„Meine Lieben“, begann Philidor seine Ansprache „ich habe eine interessante Neuigkeit für euch.“
Die Pferde schauten gespannt zu ihm auf.
„Ihr nennt euch ab sofort nicht mehr Pferde, sondern Springer!“
Beinzi und Geinzi sahen sich an:
„Springer? Oh, das klingt viel eleganter!“
„Ja, ich hörte kürzlich genau zu, als Herr Drachau seinem Dixi unser Spiel erklärte. Er sprach dabei ausdrücklich von Springern, nicht von Pferden.“
Bachtar maulte:
„Das hat er doch bloß gesagt weil er weiß, dass Dixi Angst vor Pferden hat und nicht mit uns spielen würde.“
Gachtar jedoch reckte sich stolz und schielte zu Regina hinüber. Er genoss die Aufmerksamkeit aller Schachfiguren, die inzwischen ihre Ausgangspositionen verlassen und sich neugierig um die Pferdegruppe versammelt hatten.
Bauer Boris witzelte:
„Dann müssen wir in Zukunft keine Pferdeäpfel mehr wegräumen, sondern die Springeräpfel auf die Mistforke nehmen!“
Die Bauern schlugen sich vor Lachen auf die Schenkel.
„Immer wieder werden diese Gäule bevorzugt!“, kritisierte jemand.
Läufer Langfuß bemerkte:
„Unsereiner hetzt sich die Lunge aus dem Leibe und wird trotzdem kaum beachtet!“.
Bauer Emanuel konterte:
„Ihr könnte schließlich erst laufen, wenn wir euch Platz gemacht haben!“
„Wäre es dir lieber, wenn wir auch dauernd über euch drüber springen würden, so dass ihr ständig die Köpfe einziehen müsst?“, rief Langfuß empört.
„Dieses Gehoppse der Pferde – oh Verzeihung! – der Springer – geht mir schon lange auf die Nerven!“ schrie Bruno und rieb sich den Kopf. „Bachtar ist rücksichtslos!“
„Warum stehst du auch immer genau vor mir?“, gab Bachtar zurück. „Du behinderst mich in meiner Entwicklung!“
„Was kreischt ihr hier so herum?“, mischte sich der Turm von a1 in den Streit ein. „Mir wäre es viel lieber, wenn ich immer nur einen Schritt gehen könnte. So ein filigranes Bauwerk wie ich darf doch nicht meterweit hin und hergeschoben werden. Ich könnte einstürzen!“.
„Hab dich nicht so“, erwiderte die weiße Königin Fersana. „Bei der letzten Partie bist du einfach stehen geblieben und hast tatenlos zugesehen, wie dieser freche Bauer Euwe mich aus dem Spiel beförderte. Unverschämt, dieses Fußvolk!“.
„Aber sind nicht wir es, die immer wieder geopfert werden, damit ihr feinen Leute im Spiel bleibt?“, keifte der Bauer zurück.
„Dir werde ich es zeigen!“, schrie Fersana nun wütend. „Wie kannst du so respektlos zu einer Königin sprechen?“ und sie verpasste Euwe eine saftige Ohrfeige.
Das hätte sie besser nicht tun sollen! Die Bauern wurden wütend und schüttelten die Fäuste gegen Fersana. „Wir wollen uns auf dem Schachbrett so bewegen wie es uns Spaß macht! Weg mit diesen albernen Schachregeln!“
„Jawohl, die Bauern haben Recht! Weshalb sollen wir immer nur diagonal laufen? Man bekommt eine schiefe Hüfte!“ riefen die Läufer.
Auch die Türme pflichteten ihnen bei: „Am besten, jeder bewegt sich so wie er Lust hat, da ist es nicht so langweilig!“ Und sie dachten bei sich, da könnten sie das ganze Spiel über stehen bleiben und sich ausruhen.

Nun spielten sich auf dem Schachbrett tumultartige Szenen ab.
Die Pferde – oh, Entschuldigung - die Springer – wieherten empört und schlugen mit ihren Hufen nach links und rechts aus. Die Läufer versuchten geradeaus statt diagonal zu laufen, kamen aber dauernd vom Wege ab und stießen mit Bauern zusammen, die kreuz und quer über das Spielfeld rasten und schrien: „Wir fordern Bewegungsfreiheit in alle Richtungen!“ Dabei versuchten sie auch rückwärts zu laufen, verloren aber immer wieder das Gleichgewicht. Die weiße Dame Fersana hüpfte seitwärts vom linken auf das rechte Bein, dann hoppste sie nach vorn und landete auf beiden Füßen, aber auch auf dem Fuß von Gari, der laut aufschrie. Hatte ihn doch Gachtar vorhin erst getreten. Die Türme hatten beschlossen, zukünftig nur noch höchsten ein Feld vorwärts oder seitwärts zu gehen und standen folglich allen im Wege. Gachtar und Regina hatten sich auf den Rand des Spielfeldes zurückgezogen und tauschten zärtliche Blicke, während Cessolius und Philidor vergeblich versuchten, ein wenig Ordnung in das Durcheinander zu bringen.
Schon fehlte dem Springer Geinzi ein Ohr, Fersana beklagte den Verlust einer Zacke aus ihrer Krone, Gari schrie nach einem Notarzt und humpelte vom Spielfeld, die anderen Bauern prallten immer wieder zusammen und stießen sich die Köpfe ein, Springer Beinzi scheute und drehte vollends durch und die beiden Könige konnten sich in dem Getöse kein Gehör mehr verschaffen.

Just in diesem Moment kehrten Herr Drachau und Dixi von einem erholsamen Spaziergang zurück.
„Hast du Lust auf eine Partie Schach?“ fragte Herr Drachau sein Hündchen.
„Oh, sehr gern!“ freute sich Dixi, denn er war begierig, alles über das Schachspiel zu erfahren.
Herr Drachau holte das Schachbrett. Aber wie sah es darauf aus? Alle Figuren lagen kunterbunt durcheinander, einige waren beschädigt.
Herr Drachau sah vorwurfsvoll auf Dixi:
„Bist du wieder zu schnell um die Ecke gerannt und hast das Schachbrett heruntergerissen?“
Dixi sah erschrocken auf das Spiel. „Nein, Herr Drachau. Das war ich nicht!“
Herr Drachau glaubte seinem Hund zwar, wunderte sich aber doch. Er holte den Klebstoff und reparierte die Figuren, so gut es halt ging.
Dann stellte er sie auf, eine jede an ihren richtigen Platz. Ihm schien, als würden sich einige ein wenig dagegen sträuben. Aber Ordnung musste sein, sonst konnte man nicht spielen.
„Dixi, du beginnst mit den weißen Figuren!“ rief Herr Drachau fröhlich und rieb sich in Erwartung einer spannenden Partie die Hände.
Dixi überlegte nur kurz, packte dann den Königsbauern am Schopfe, um ihn zwei Felder nach vorn zu befördern. Doch plötzlich hielt er inne. Denn es schien ihm, als hätte ihm der Springer auf b1 zugeblinzelt so als wollte er sagen: „Setze lieber mich! Diese Springereröffnungen mag Herr Drachau gar nicht und du bist gleich im Vorteil.“ Dixi ließ den Bauern los und griff nach dem Springer. Aber Herr Drachau protestierte lautstark: „Bei uns gilt die Regel: berührt – geführt! Du musst den Bauern setzen!“.
Dixi wusste ganz genau: An die Spielregeln musste er sich halten, sonst spielte sein Herrchen nicht mehr mit ihm. Und dabei wollte er doch so gern sein Schachspiel verbessern, dachte er doch immer öfter an eine gewisse Hundedame, die exzelent Schach spielte und unweit im blauen Haus der Grauen Gasse wohnte.
Seufzend ließ Dixi den Springer wieder los und schob den Bauern auf e4. Und die Schachpartie nahm ihren geregelten Lauf. Nur ab und zu schien es Dixi, als ob er ein leises Wiehern gehört hätte.

Herbert Drachau